5. Februar 2010 - Port Lockroy
Gut geschlafen, aber irgendwie bin ich heute morgen nicht so gut drauf. Vielleicht gehen nun schon fast vier Wochen andauernde Erlebnisse, Eindrücke und Abenteuer doch nicht ganz spurlos an einem vorbei. So bin ich bei unserem Landgang in Alice Creek (Jougla Point) etwas mißmutig gestimmt. Es ist kalt, ein eisiger Wind weht, alles ist grau in grau und dazu noch das Geklettere über die blöden Uferfelsen. Und dann, als wir zu den mächtigen Walskeletten kommen, müssen wir uns diese zu allem Überfluß auch noch mit den Touristen von dem in der Nacht eingetroffenen Kreuzfahrtschiff Prinz Albert II teilen.
Rückkehr zur Sarah. Nach einer kurzen Stärkung geht es los zu Goudier Island, wo sich die britische, heute nur noch als Museum und Postamt in den Sommermonaten betriebene Station befindet. Das Wetter hat sich gebessert, die Stimmung steigt. Wir machen bei den Mooring-Ketten aus den Walfängerzeiten fest und laufen zum Bransfield House. In dem kleinen Museum ist einiges über die Geschichte der antarktischen Entdeckungen und des Walfangs nachzulesen. Auch Port Lockroy wurde von Charcot entdeckt, auf seiner ersten Expedition mit der Français. Von ihm stammt auch der Name: Lockroy war zum Zeitpunkt der Benennung der Stiefschwiegervater von Charcot, wenige Monate später nur noch Ex-Stiefschwiegervater. Nichtsdestoweniger hatte Charcot neben den fragilen und dürftigen Familienbanden auch noch einen anderen Grund, den Naturhafen so zu benennen: Lockroy, Ex-Marineminister und zu dieser Zeit Vizepräsident des französischen Abgeordnetenkammer, hatte sich dafür eingesetzt, daß die Abgeordnetenkammer 90.000 Francs für die Expedition bewilligte. Als idealer Schutz vor allem Witterungsunbilden diente Port Lockroy später mehreren Walfangschiffen als Ankerplatz. Davon zeugen noch heute Mooringketten und Reste von Walbooten. An einem Felsen kann man sogar noch die Worte „Solstrief Moring 1912“ lesen. Die Solstreif war ein Fabrikschiff, das hier von 1911 bis 1931 gelegen hat; ob die Aufschrift aber wirklich noch original ist?
Aber wir müssen heute noch weiter, die Zeit drängt. Wir holen bei nun strahlend blauem Himmel den Anker auf und steuern in den Neumayerkanal. Wieder breitet sich ein Panorama vor uns aus, für das alle Begriffe der deutschen Sprache nicht ausreichen oder abgedroschen wirken. Achteraus sehen wir noch die Hütten von Port Lockroy vor der mächtigen Felswand von Luigi Peak. An Backbord erheben sich gewaltig die weißen Hänge von Mount Williams im vollen Sonnenlichte und in der Ferne grüßt der fast 3.000 m hohe Mount Français. An Steuerbord gleitet Peak Jabet vorbei, der immer noch das gleiche Schneemuster trägt, wie schon zu Charcots Zeiten. Vor uns das dunkelblaue Wasser des Neumayerkanal, durchsetzt mit dem Weiß einzelner Eisschollen oder einer ganzen Kette von Resten eines zerborstenen Eisberges. Und über allem das strahlende Hellblau des antarktischen Himmels, mit dem Weiß einzelner Wolken verziert. Nach einem Rechts-Links-Schlenker verlassen wir den Neumayerkanal und fahren auf die Gerlachestraße hinaus. Jetzt wird es frischer, wir setzen Segel. Über die Gerlachestraße hinüber grüßt noch einmal Cuverville Island. Zwischen Ryswick Point und Ryswick Island biegen wir in die Dallmann Bay ein. Auch hier dunkelblauer Himmel und strahlende Sonne.
Da wir am Ziel unserer heutigen Etappe Wasser fassen wollen, gibt es ein letztes Mal vor der Rückkehr in die Zivilisation die Möglichkeit der Dusche. Aber was heißt Dusche: im Knien mit einer schwachen Brause ein wenig Wasser über den Körper laufen lassen. Aber das Wasser ist warm und, mit etwas Shampoon nachgeholfen, fühlt man sich anschließend wie neugeboren. Die Frischwassertanks der Sarah fassen 1000 l, für 9 Personen ist das nicht viel, es muß Wasser gespart werden. Deshalb besteht die normale Körperwäsche während des Törns aus dem Abreiben mit etwas eiskaltem Wasser aus einem nur tröpfelnden Wasserhahn. Im Vergleich damit ist das beschriebene Duschbad ein ungeheurer Luxus, den ich während der 25 Tage des Törns nicht mehr als viermal genossen habe.
Und weiter geht es durch die sonnige Dallmann Bay. Im Osten reckt Bulcke noch einmal seinen Finger in die Höhe, Mount Français steht nun westlich von uns, an Steuerbord lassen wir Gand Island liegen und langsam rücken die Melchior Islands näher. Die Inselgruppe besteht aus Inseln, deren Mitglieder alle griechische Buchstaben tragen. Unser Ankerplatz liegt in einer engen Durchfahrt zwischen Omega und Eta, den beiden größten Inseln des Archipels.
Tagesstrecke: 43 sm (Gesamt: 914 sm)
Galerie
6. Februar 2010 - Melchior Islands
Unser letzter Tag in der Antarktis, er dient der Vorbereitung auf die Überfahrt durch die Drakepassage. Alles wird seefest gemacht, das Schlauchboot in seine Einzelteile zerlegt und auf dem Achterschiff festgezurrt, die Fock 2 am Kutterstag angeschlagen und natürlich Wasser vom Gletscher gefaßt. Dazu klettern Henk und Andrej mit dem Wasserschlauch die Felsen zum Gletscherrand hoch. Bald hat Henk eine Stelle gefunden, wo der Gletscher „leckt“. Das andere Schlauchende im Frischwassertank, brauchen wir nun nur noch zu warten, bis der Tank voll ist.
Damit der Schipper noch ungestört notwendigen Arbeiten nachgehen kann, macht der Rest der Crew einen kleinen, letzten Ausflug mit dem Schlauchboot. Wir fahren - wieder bei so unverschämt blauen Himmel und Sonnenschein - durch Puerto Andersen, vermutlich nach dem Kapitän des Fabrikschiffs Svend Foyn, Ola Andersen, so benannt. An einem Felsen sieht man immer noch die Mooringketten der Walfänger. Aus Puerto Andersen geht es hinaus auf den Sund, der Omega und Eta von Gamma, Lamda, Kappa und Delta trennt. Eisberge schwimmen auf dem Wasser, die so blau sind, daß man die Farbe gedruckt für eine Fälschung halten würde. Dahinter die hohen schneebedeckten Gipfel von Anvers Island. Wir durchqueren in diesem Paradies, dessen Beschreibung die Ausdrucksfähigkeit der deutschen Sprache erneut sprengen würde, einen Gürtel von Eisschollen und nähern uns Gamma Island, auf der sich die heute unbemannte argentinische Station Base Melchior befindet. Um die Station herum tiefster Schnee, der uns bis an die Knie einsinken läßt. Ein einzelner Kormoran sitzt auf den Felsen, ansonsten keine Spur von Leben.
Die Gewässer, die wir gestern durchsegelt und heute mit dem Schlauchboot durchfahren haben, wurden am 11. Januar 1874 nachmittags von der Grönland unter Kapitän Dallmann erstmals befahren. In dem Logbuch der Grönland liest man dazu: „Mittags fanden, daß das Land sich von hier Östlicher streckte. 1u bemerkten eine tiefe und breite Bucht, steuerten S.Östl. darauf zu. 4u strichen Boote um die Bucht zu untersuchen. Fanden die innere Seite der Bucht mit kleinen Eisbergen und zerschlagenem Eis angefüllt, so daß wir nicht weit genug vordringen konnten um zu untersuchen, ob die Bucht in eine Straße endete oder nicht. Fanden in der Bai nichts u. außerhalb nur einige Seehunde. 9½u kamen die Boote an Bord.“ Heute heißt die Bucht, die ja eigentlich eine Straße ist, dem Entdecker zu Ehren Dallmann Bay. Die nördliche Spitze von Anvers Island, um die herum die Expedition die Dallmann Bay von See aus anlief, ist nach dem Schiff Cape Grönland benannt. Auf der nach Dallmanns Berichten gezeichneten Karte sind die Melchior Islands und ebenfalls das gestern passierte Gand Island deutlich erkennbar.
Um sechs Uhr abends wird der Anker gelichtet, nun heißt es Abschied nehmen. Ich sauge ein letztes Mal die Bilder von dieser weißen, wunderbaren und doch so unwirtlichen und lebensfeindlichen Welt in mich ein. Dann geht es zwischen zwei aus dem Wasser schauenden Felsenreihen hinaus in die Weite des Ozeans.