Pamir - Ihr Untergang und die Irrtümer des Seeamtes
Am 21. September 1957 kenterte und sank das frachtfahrende Segelschulschiff Pamir in dem tropischen Hurrikan Carrie nordwestlich der Azoren. Nur 6 der 86 Besatzungsmitglieder überlebten, die gesamte Schiffsführung ist auf See geblieben. Diese Tatsache hat die Ursachenfindung für den tragischen Seenotfall stark behindert, da über Maßnahmen und Erwägungen der Schiffsführung vor und während der Begegnung mit dem Hurrikan keine direkten Erkenntnisse mehr gewonnen werden konnten. Trotzdem ist das Seeamt Lübeck in seiner Verhandlung im Januar 1958 in einer sehr akribischen Untersuchung zu der durchaus plausiblen Feststellung gekommen, daß die Pamir nicht Opfer höherer Gewalt geworden ist, sondern durch einen zumindest objektiv - d.h. vom Ende her gesehenen - vermeidbaren Stabilitätsunfall verloren ging. Dem Urteil lagen meteorologische und stabilitätstechnische Gutachten zugrunde, es wurden alle noch lebenden Rahseglerkapitäne von Rang und Namen gehört, und der Vergleich mit dem kurze Zeit später stattgefundenen und glimpflich geendeten ähnlichen Seenotfall der Passat fand Eingang in den Spruch. Das Seeamt hat es explizit abgelehnt und nicht in seiner Zuständigkeit gesehen, über Schuld oder Unschuld der Schiffsführung zu urteilen. Trotzdem, und das war bei der Aufgabe, Ursachen und Umstände des Untergangs der Pamir zu ergründen, nicht zu vermeiden, trotzdem findet man in der Begründung des Spruches Passagen, die viele als indirekte Schuldzuweisung gegenüber Kapitän, Eigner und Reeder der Pamir verstanden haben.
Und hier setzt das vorliegende Buch an. Geschrieben ist es von Rechtsanwalt Horst Willner (1919-1999), der juristischer Vertreter der Witwe von Kapitän Johannes Diebitsch, dem Eigner, der Stiftung Pamir und Passat, und der Reederei Zerssen & Co in der Pamirangelegenheit war. Allerdings waren die genannten Parteien aus formalen Gründen nicht Verfahrensbeteiligte vor dem Seeamt, besaßen also keinen Anspruch auf rechtliches Gehör. So war auch ihr juristischer Vertreter nur Zuhörer in dem Verfahren, allerdings ein sehr aufmerksamer und aktiver. Er hat die gesamte Verhandlung mitstenographieren lassen; diese Notizen waren mit Grundlage für sein erstmals 1991 erschienenes Buch. Sein Anliegen ist die auf juristischem Wege nicht mögliche - und deshalb in zwei von Willner angestrebten, aber aus formellen Gründen erfolglosen Berufungsverfahren gescheiterte - Rehabilitation von Kapitän, Eigner und Reeder gegenüber dem implizit herausgelesenen Schuldspruch durch das Seeamt.
Willner ist nicht nur Jurist, was in seinem Buch deutlich zu merken ist, sondern auch Seemann. Er wurde vor dem Kriege auf der Gorch Fock, dem ersten Schulschiff dieses Namens, als Offiziersanwärter ausgebildet und diente während des Krieges als Offizier und Kommandant auf Kreuzern, Zerstörern und U-Booten. Nach langer Anwaltstätigkeit war er Vorstandsmitglied im Norddeutschen Lloyd, später in der Hapag-Lloyd AG und in der Seeberufsgenossenschaft. Auch der Segelschiffahrt ist er im Deutschen Schulschiff-Verein und in CLIPPER - DJS e.V. verbunden geblieben. Wir haben es also durchaus nicht nur mit einem Juristen, sondern mit einem sachkundigen Kenner maritimer Gegebenheiten zu tun.
Willner plädiert in seinem Buch für Höhere Gewalt als Ursache des Untergangs der Pamir. Dafür nimmt er wesentlich höhere Windstärken als das Seeamt an. Diese höheren Windstärken hält er zum einen für die Krängung verantwortlich - den Ladungsübergang schließt er aufgrund der zu kurzen mit deutlicher Schräglage gesegelten Zeit aus - zum anderen findet er in der enormen Windbelastung (er rechnet mit durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten bis 100 Knoten, in Böen bis 160 Knoten) die Ursache für von ihm angenommenen Schäden in der Außenhaut, die schließlich zum Sinken der Pamir geführt hätten. Begründet werden die von ihm angenommenen Windstärken mit einer größeren Nähe zum Hurrikanzentrum - aufgrund des Fundortes der Schiffstrümmer vier Tage nach der Katastrophe behauptet er eine um 22 Seemeilen südlichere Position als die zuletzt von der Pamir gemeldete - und mit der Unterschätzung der in dem Hurrikan steckenden Gewalt durch das Seeamt. Mängel im Verschlußzustand, jedenfalls soweit sie ursächlich für eine Schiffsgefährdung wären, sieht Willner nicht. Auch die Orkanstrategie der Schiffsführung und die Segelführung sind der Lage angemessen gewesen.
Neben seiner deutlich anderen Ansicht über den Tatbestand rügt Willner Verfahrensmängel und -fehler. So nimmt er unter anderem Befangenheit des Seeamtes wegen zu früher Meinungsbildung an. Die Beschäftigung mit diesem Thema nimmt einen nicht unerheblichen Teil des Buches ein und wird wohl eher den Juristen als den an der Segelschiffahrt Interessierten fesseln. Für letzteren sind das Für und Wider hinsichtlich des Ablaufs der Katastrophe und einige beigegebene Dokumente besonders interessant. Außerordentlich beeindruckend ist der lange Auszug aus dem Gutachten von Kapitän F. W. Schmidt von der Seefahrtschule Hamburg, welches für die Stiftung Pamir und Passat erstellt wurde. Neben der ausführlichen Diskussion der zeitlichen Entwicklung von Wetter und Schiffskurs fesselt an dem Gutachten die fast an eine griechische Tragödie erinnernde Beschreibung der Schicksalshaftigkeit des Geschehens.
Wenn man das Buch kritisieren will, dann wegen seines allzu „verfahrenstechnischen“ Ansatzes. Man vermißt die durchgängige Erklärung, wie Willner den Unglückshergang für wahrscheinlich hält. Der vom Seeamt angenommene Verlauf wird punktuell an mancher Stelle angegriffen, aber es wird kein substantiierter und konsistenter Gegenentwurf erstellt. Statt dessen wird aus Zeugenaussagen, die teilweise sogar gegensätzlich sind, gefolgert: so war es nicht! Der Leser hätte aber gerne gewußt, wie es denn dann nach der Vorstellung des Autors war. So verhält es sich auch mit dem wichtigsten Argument Willners, dem vermuteten Leckspringen des Schiffsrumpfes. Selbst entwickelt er keine fundierte Vorstellung, wo das Leck gewesen sein sollte, wann es entstanden ist, welche Mengen Wasser eingedrungen wären usw. Die Antworte auf diese Fragen, wenn sie denn überhaupt im Buch erhältlich sind, muß sich der willige Leser aus den wiedergegebenen Passagen aus dem Pamir-Buch von Karl-Otto Dummer selber erschließen. Danach wäre die Leckage, falls es sie tatsächlich gegeben hätte, auf der Steuerbordseite vor der Luke 3 am Schiffsboden zu suchen. Natürlich verringert ein Leck ebenfalls die Stabilität eines Schiffes. Aber daß dies im vorliegenden Falle passiert ist, dieser Beweis wird nicht einmal ansatzweise erbracht. Es wäre jedoch die Aufgabe des Autors gewesen, diesen Nachweis dezidiert zu führen, wenn er den Seeamtsspruch erschüttern wollte.
Es sei noch angefügt, daß das von Dummer beschriebene Wasser im alleruntersten Teil des Schiffes erst kurz vor der Kenterung gesichtet wurde (der Provisionsraum, in dem Wasser stand, befand sich ganz unten im Schiff, s. Abbildung), als sich das Schiff weit übergeholt schon in aussichtsloser Lage befand. Somit kann es sich nur um einen minimalen und nicht für die Kenterung ursächlichen Wassereinbruch gehandelt haben.
Rißzeichnung und Decksaufsichten der Pamir (aus Karl-Otto Dummer: Viermastbark Pamir )
Obwohl Willner das Seeamt fast der Rechtsbeugung wegen der nach seiner Meinung allzu großen Zahl von Verfahrensmängeln oder gar Verfahrensfehlern bezichtigt, so sieht er doch ein hehres Motiv für das Verhalten des Seeamtes: Es wäre an einer Fortführung der Segelschulschiffahrt interessiert. Höhere Gewalt, läßt Willner das Seeamt vermuten, würde diesem Zwecke zuwider laufen, denn „dann wäre der Einsatz zu hoch“ (Seeamt).
Dem Buch ist deutlich die Handschrift des Rechtsanwaltes anzusehen, da werden oft herausgepickte Einzelheiten für Argumentationen benutzt, die bei einer Gesamtschau der Tatsachen nicht mehr als zwingend erscheinen. Notwendig und lesenswert ist dieses Buch aber trotzdem für eine eigene Meinungsbildung über den Untergang der Pamir. Letzte Sicherheit über die Ursachen des Unterganges der Pamir wird es wohl nicht mehr geben. Auch wenn für den Autor dieser Zeilen der Seeamtspruch die wesentlich höhere Plausibilität besitzt (und insbesondere für ihn daraus kein schuldhaftes Versagen der Schiffsführung abzuleiten ist), ist ein Buch wie das vorliegende gerade wegen des Fehlens einer unstrittigen Erklärung sehr wichtig. Ihm daher von vornherein Befangenheit oder sogar unlautere Absichten vorzuwerfen, wie vielfach geschehen, ist weder fair noch sachdienlich.
Buchdetails
- Titel:
- Pamir - Ihr Untergang und die Irrtümer des Seeamtes
- Autor:
- Horst Willner
- Seiten:
- 159
- Sprache:
- Deutsch
- Verlag:
- Koehlers Verlagsgesellschaft mbH, Hamburg, 1997
- ISBN:
- 978-3-7822-0713-3